Nach dem EM-Finale Rassismus im englischen Fußball: "Es beginnt an der Spitze"

Stand: 13.07.2021 19:50 Uhr

Englands Fehlschützen im EM-Finale gegen Italien bekommen nach rassistischen Anfeindungen viel Zuspruch - auch von Boris Johnson und seiner Regierung. Doch die Öffentlichkeit zweifelt an deren Glaubwürdigkeit.

Von Hendrik Buchheister (Manchester)

Gary Neville war nicht überzeugt, als diese Eilmeldung auf seinem Handy aufblinkte. Sie besagte, dass der britische Premierminister Boris Johnson die rassistischen Anfeindungen verurteilen würde, denen Marcus Rashford, Jadon Sancho und Bukayo Saka nach ihren Fehlschüssen im Elfmeterschießen bei Englands Niederlage im EM-Finale gegen Italien ausgesetzt waren.

"Ich lese gerade diese Breaking News", begann Neville seine Ausführungen beim englischen Bezahlsender "Sky", wo er als einer der angesehensten Fußballexperten des Landes arbeitet. Neville fragte, ob das der gleiche Johnson sei, der noch vor ein paar Wochen gesagt hätte, dass es in Ordnung sei, die englische Nationalmannschaft dafür auszubuhen, dass sie vor den EM-Spielen als Zeichen gegen Rassismus auf die Knie geht.

Für Neville war Johnsons Missbilligung der Anfeindungen gegen Englands Fehlschützen unglaubwürdig. Das Problem mit Rassismus? "Es beginnt an der Spitze", sagte er – und meinte damit: bei Johnson und seiner Regierung.

Beleidigungen - es geht weiter wie gehabt

Das EM-Finale hat seine Wunden hinterlassen in England, nicht nur wegen der Niederlage und der Rückkehr des eigentlich für überwunden geglaubten Elfmeter-Traumas, sondern auch wegen der Begleitumstände. Wegen jener Fans, die vor dem Spiel gewalttätig das Wembley-Stadion gestürmt hatten, und wegen jener, die hinterher ihren Rassismus über Rashford, Sancho und Saka ausschütteten.

Die Beleidigungen waren nicht überraschend, im Gegenteil: Wer den englischen Fußball ein bisschen verfolgt hat über die vergangenen Jahre, der wusste sofort, was die drei unglücklichen Schützen in der Folge in den sozialen Medien zu ertragen haben würden.

Wenn die Premier League läuft, erlebt man das fast wöchentlich – ein schwarzer Spieler macht einen Fehler, er wird rassistisch beleidigt, alle Seiten zeigen sich empört, dann geht es weiter wie gehabt.

Gegenwind für die Spitzenpolitiker

In diesem Fall allerdings geht es nicht einfach so weiter. Stattdessen debattiert das Land über die Rassismus-Ursachen, und viele Beobachter zeigen dabei auf Johnson und seine Regierung. Innenministerin Priti Patel verunglimpfte den Kniefall sogar als "Gestenpolitik" und stellte es englischen Fans frei, ihren Unmut dagegen zum Ausdruck zu bringen.

Nach dem EM-Finale zeigte auch sie sich schockiert über den Rassismus gegen Rashford, Sancho und Saka – und bekam dafür Widerspruch von Nationalspieler Tyrone Mings, Verteidiger von Aston Villa. Dieser warf Patel vor, das "Feuer angefacht" zu haben.

England befindet sich schon seit einer Weile im Kampf mit sich selbst, das Brexit-Votum vor fünf Jahren ist der beste Ausdruck der Zerrissenheit. Die Nationalmannschaft hat sich entschieden, aktiv Position zu beziehen –  spätestens, seitdem sie bei einem Länderspiel in Bulgarien im Herbst 2019 massiv von bulgarischen Fans rassistisch beleidigt worden war.

Spieler beziehen Stellung - und ernten Zustimmung

Die Spieler sprechen sich aus gegen Rassismus und andere Formen der Diskriminierung und haben dadurch bei der EM auch das Wohlwollen vieler Menschen in England gewonnen, die mit Fußball sonst wenig zu tun haben oder der Nationalmannschaft eigentlich skeptisch gegenüberstehen. Für Johnson und seine Regierung ist das ein Problem.

Sie kommen mit mit ihrer unklaren Haltung zum Thema Rassismus nicht einfach so davon, werden zur Verantwortung gezogen – im Zweifel von den Spielern selbst wie im Fall von Tyrone Mings.

So beschämend die Vorfälle um das Finale waren aus englischer Sicht – es scheint sich etwas zu tun im Land. Sogar die rechtspopulistische Boulevardzeitung "The Sun" hob die drei Fehlschützen auf ihre Titelseite und schrieb dazu: "Die Nation vereinigt sich gegen Rassismus. Wir stehen hinter Euch."

Rashford setzt sich ein - erfolgreich

Flügelstürmer Rashford von Manchester United ist im vergangenen Jahr zu einer Ikone des gesellschaftlichen Wandels geworden. Er setzt sich gegen Kinder-Hunger in England ein und hat die britische Regierung in der Corona-Pandemie mit einer öffentlichen Kampagne schon zweimal gezwungen, Entscheidungen rückgängig zu machen, die Kindern aus armen Elternhäusern geschadet hätten.

Die Unterstützung für Rashford zeigte sich jüngst sehr deutlich: Ein Wandgemälde, das den Star zeigt, wurde nach dem EM-Finale verunstaltet. Doch es dauerte nicht lange, bis Einheimische die Schmierereien überklebten – mit Hunderten von Botschaften, die ihre Zuneigung, ihren Respekt und ihre Dankbarkeit an Rashford ausdrückten.

Gerade hat sich Rashford über seine digitalen Kanäle zu seinem Fehlschuss zu Wort gemeldet. Der Elfmeter sei schlecht gewesen, gestand er, und bat dafür um Verzeihung. "Aber ich werde nie dafür um Entschuldigung bitten, wer ich bin und woher ich komme", schrieb er – und erhielt dafür viel Unterstützung. Dass ein schwarzer Fußballer sich so selbstbewusst zu seiner Identität äußert und dafür Applaus von der Öffentlichkeit bekommt, das muss in England als Fortschritt gelten.