Sprint-Europameisterin Gina Lückenkemper
analyse

Busemanns WM-Orakel Sprint: Showdown der Schnellzucker - Lückenkemper im Fokus

Stand: 18.08.2023 08:43 Uhr

Welche Schnellzucker holen die Medaillen in Budapest? Was ist für 100-m-Europameisterin Gina Lückenkemper bei der WM drin? Und überrascht die deutsche Frauenstaffel wieder auf Weltniveau? ARD-Leichtathletik-Experte Frank Busemann mit seinen Einschätzungen zum Sprint.

100 m

Kerley, Lyles oder Hughes? Der Nervenstärkste gewinnt!

In der Weltrangliste tummeln sich die ersten 30 Athleten unter zehn Sekunden innerhalb einer Bandbreite von 16 Hundertstel. Das orakeln nach zehn Jahren Usain Bolt gleicht einer Lotterie. Einer, der denkt, er gewinnt ohnehin, ist der Weltmeister Fred Kerley. Der andere ist Noah Lyles, der schon angekündigt hat, dass er irgendwann 9,65 Sekunden läuft. Doch da haben andere Schnellzucker was dagegen und die sind nicht minder talentiert in der Einschätzung eigener Fähigkeiten. Zudem ist das eine Tugend im Zirkus der Kurzarbeiter.

Frank Busemann

ARD-Leichtathletik-Experte Frank Busemann.

Die 2023er Weltrangliste führen eher die nicht üblichen Verdächtigen in Gestalt des neuen Europarekordlers Zharnel Hughes oder des Kenianers Ferdinand Omanyala an. Auf Platz vier rangierte der vermeintliche Junioren(!)-Weltrekordler Issamande Asinga mit 9,89 Sekunden. Doch der hat einmal mehr zu unerlaubten Mitteln für seine Spritzigkeit gegriffen. Aber was kann die übrig gebliebene Heerschar schnelllaufender Männer? Fragen über Fragen und die Entscheidung wird der Nervenstärkste für sich fällen.

Auf dem Papier, im Gesamteindruck, ist Omanyala in diesem Jahr der beste, aber entscheidend ist bereits am ersten Sonntag um 19:10 Uhr auf der Bahn. Der Kenianer lief die meisten Rennen und guten Zeiten in Nairobi, zu Hause, doch der Sieg beim Diamond-League-Meeting in Monaco machte die Gegnerschaft stutzig. Jetzt haben sie Angst. Aber Angst kann man auch in Leistung umwandeln. Und das werden die Amerikaner machen.

Deutschlands schnellster Sprinter Julian Wagner reist mit 10,11 Sekunden nach Budapest. Dort gilt es aber, im Konzert der schnellen Jungs locker zu bleiben und vielleicht sogar eine Zeit unter 10,20 Sekunden zu laufen, das wäre top.

Lückenkemper gegen eine neue Ära im Frauensprint

Der Kurzsprint der Frauen genießt durch Gina Lückenkemper in Deutschland besonderes Augenmerk. Schnelle Zeiten und flotte Sprüche bringen die in den USA Trainierende weit nach vorn. Der Lohn für das tägliche Kräftemessen mit Topathleten war der EM-Titel im vergangenen Jahr.

In Budapest läuft sie gegen eine ganz neue Ära im Frauensprint. Zeiten unter 10,80 Sekunden scheinen in diesem Jahr auch in der Breite etwas eher Alltägliches zu sein und das macht es ungemein schwer. Selbst Titelverteidigerin Shelly-Ann Fraser-Pryce aus Jamaika droht in diesem Jahr ohne Medaille nach Hause zu fahren. Ihr Saisondebüt in 10,82 Sekunden war bemerkenswert, aber die Landsfrau Shericka Jackson, Paradiesvogel Sha’Carrie Richardson und Afrikarekordlerin Marie-Josée Ta Lou knickern den Titel in diesem Jahr unter sich aus.

Für Lückenkemper wird es darum gehen, einen Finalplatz zu ergattern. Staffel-Europameisterin Rebekka Haase hat nach starkem Saisoneinstieg mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen gehabt und ist gerade rechtzeitig wieder zurückgekommen.

200 m

Lyles oder ein junger Erfahrener?

Bei der doppelt so langen Sprintstrecke erhob Weltmeister Noah Lyles jüngst Ansprüche auf die Regentschaft. Die 200 m gehörten ihm und nur über ihn gehe es um den Titel. Dass auch Bolts Weltrekord nicht mehr lange Bestand haben könnten, machten zwei Youngster deutlich. Botswanas Letsile Tebogo brachte Lyles schon in London in arge Bedrängnis und forderte ihn zum Äußersten. Bei dem Teenageralter gerade entwachsenen Athleten kann es mitunter passieren, dass es im Adrenalinschwall kurz aushakt und der Etablierte das Nachsehen hat. Zu welcher Spezies der erst 19-jährige Erriyon Knighton zählt, wird sich zeigen. Der WM-Dritte und Olympia-Vierte ist ein junger Erfahrener. Oder ein erfahrener Junger. Gefährlich.

Hartmann in ganz neuen Sphären - und bald im 19er-Club?

Deutschlands neuer Rekordhalter Joshua Hartmann ist mit seinen 20,02 Sekunden in ganz neue Sphären vorgestoßen. Das ist eine ausgewachsene Sprintzeit. Doch was kann er im Konzert der Großen abliefern, wenn eben jene Titelanwärter auf der Nachbarbahn ihren Vorlauf runterjoggen? Locker muss er bleiben! Dass er in den elitären 19er-Club eintreten kann, weiß er, erwarten alle von ihm - und das macht es so schwer. Der Fokus liegt erst einmal auf dem Vorlauf.

Rekordsprinter Hartmann - "Habe Lust auf die WM"

Sportschau

Shericka Jackson die Top-Adresse für Gold

Die Weltbeste Gabby Thomas erschwert dem Fachmann die Prognose ungemein. In den USA läuft sie oft relativ schnell, außerhalb der heimatlichen Grenzen tut sie sich schwer. Und da Budapest in Ungarn liegt, wird sie nicht gewinnen. Also eigentlich eine ganz einfache Rechnung. Doch wer macht das Rennen in diesem Jahr?

Die Jamaikanerin und mit einer (Achtung Orakel-Spoiler) 100-m-Medaille dekorierte Shericka Jackson bietet sich als Topadresse für die Goldmedaille an, doch die in den Vereinigten Staaten studierende Julien Alfred, die jüngst einen "Profivertrag" unterschrieb, ließ mit einer Menge guter Leistungen aufhorchen. Die auf der 188.000-Einwohner zählenden Insel St. Lucia aufgewachsene Sprinterin wird sich zudem noch gegen andere Athletinnen wie Sha’Carri Richardson um die Medaillen battlen.

400 m

Gold geht nur über eine 43 vor dem Komma

Da ist er wieder. Der lang verletzungsgeplagte Weltrekordler Wayde van Niekerk schickt sich an, wieder um die Medaillen und den Titel mitzulaufen. Der Weltjahresbeste Steven Gardiner ist zwar auf dem Papier etwas schneller, aber van Niekerk läuft kleine 44er-Zeiten im Stakkatotakt. Der neue kommende Weltmeister muss allerdings eine 43 vor dem Komma stehen haben.

Im Titelkampf mitmischen will auch der Sambier Muzala Samukonga. Beim ihm zeigt die Formkurve allerdings in die falsche Richtung, so dass eine Topplatzierung überraschend käme. Titelverteidiger Michael Norman übt sich nach einer langwierigen Verletzung in Geduld und muss den Fokus auf die Olympischen Spiele in Paris im nächsten Jahr legen.

Dem deutschen Laktatfan hüpft vor Glück das Herzchen aus dem Hemd: Manuel Sanders kratzt an der 45-Sekunden-Marke.
Frank Busemann

Manuel Sanders findet von Rennen zu Rennen immer besser in den Rhythmus. Diesen beim Saisonhöhepunkt auf die Bahn zu bringen, ist kein Leichtes, aber alles was jetzt noch kommt, ist Zugabe. Das Halbfinale ist das Ziel.

Weltjahresbeste McLaughlin-Levrone läuft nicht mit

Die Hürden-Weltrekordlerin und Weltjahresbeste Sydney McLaughlin-Levrone musste ihren Start verletzungsbedingt kurzfristig absagen, da ist der Weg frei für Vizeweltmeisterin Marileidy Paulino, die in Budapest ihren ersten großen Einzeltitel gewinnen will und kann. Sicher ist auch, dass die Titelverteidigerin Shaune Miller-Uibo nach der Geburt ihres Sohnes nicht gewinnen wird. Oder crasht die überaus konstante Britton Wilson die Titelparty von Paulino?

110 m Hürden

Holloway ist der Gejagte

Im Hürdensprint wird der Jahresbeste Rasheed Broadbell aus Jamaika immer besser. In den letzten zwei Jahren steht es im direkten Aufeinandertreffen gegen den Titelverteidiger Grant Holloway 3:3. Wenn Holloway zur Halbzeit des Rennens den Atem seiner Konkurrenten spürt, dann wird er den Kürzeren ziehen. Der Hallenweltrekordler muss seinen Sieg vorn rauslaufen. Aber er wird von allen Seiten gejagt, aus der eigenen Mannschaft, starke Franzosen mit dem (noch zu jungen?) Sasha Zoya oder Jamaika um Olympiasieger Hansle Parchment. Vielleicht sehen wir einen Sieger, der noch nie oben stand.

100 m Hürden

Die Kurzhürden der Frauen stehen meist ganz im Zeichen der Sprinterinnen aus den Vereinigten Staaten, was zum Saisonhöhepunkt jedoch immer mal wieder kleine Überraschungen hervorbrachte, da die Dominanz dann doch nicht so stark, wie erwartet war. Die Hürden haben oftmals ihre eigenen Gesetze und kleine technische Unsauberkeiten haben bei der geringen Höhe meist fatale Folgen. Nachdem Weltmeisterin Tobi Amusan wegen dreier verpasster Dopingkontrollen erst vorläufig suspendiert war, ist sie in Budapest nun doch am Start und wird natürlich ein geschmäckliches Wörtchen um die Medaillen mitreden.

Nia Ali Gold-Favoritin

Die in den Staaten wohnende und trainierende Jasmine Camacho-Quinn hat sich trotzdem zum Ziel gesetzt, das Gold für Puerto Rico zu holen. Favoritin ist allerdings US-Meisterin und 2019er-Weltmeisterin Nia Ali, die in dieser Saison schon fast 20 Rennen bestritten hat und das Momentum auf ihrer Seite hat. Ex-Weltrekordlerin Kendra Harrison ist ebenfalls bärenstark und läuft solide schnelle Zeiten. Aber für den Titel benötigt Frau diesen einen Lucky Punch, der sie zur Weltmeisterin macht.

400 m Hürden

Warholm hat das Gaspedal wiedergefunden

Oha, die Einführung der Carbonspikes war eine Revolution in dieser Disziplin. Standen wir jahrzehntelang auf einem ähnlichem Level, liefern die Athleten nun Traumzeiten ab. Weltrekordler und Olympiasieger Karsten Warholm hat nach seinem verletzungsbedingten schwachen Abschneiden im vergangenen Jahr wieder das Gaspedal gefunden und geht als Favorit auf die hindernisübersäte Stadionrunde. Dicht gefolgt vom Vize-Olympia-Welt-Sieger-Meister Rai Benjamin. Nachdem der Brasilianer Alison Dos Santos Warholms Form im vergangenen Jahr zu seinem Vorteil nutzte, ist der Amerikaner der einzige der großen Drei, der noch keinen Titel in seiner Disziplin hat. Und so wird es auch bleiben.

Preis und Abuaku auf der Jagd nach der U49-Zeit

Aus deutscher Sicht haben sich Constantin Preis und Joshua Abuaku mit dem zweiten Platz der ewigen deutschen Bestenliste verewigt. Die beiden pushten sich bei den DM enorm, lieferten ein erstklassiges Rennen ab und müssen sich bei der WM in der Morning Session im Vorlauf schadlos halten. Die Hoffnung auf Wiederholung dieses Monsterritts wäre vermessen, eine Zeit U49 klasse. Dritter im Bunde ist der starke, aber dann von Verletzungssorgen geplagte Emil Agyekum, der in letzter Sekunde den Gesundheitsnachweis im Leverkusen zeigte. Bei ihm wird es darum gehen, schneller als 50 Sekunden zu laufen.

Femke Bol nur durch einen Bauchfletscher zu stoppen

Die Langhürde der Frauen steht ganz im Zeichen der Europameisterin Femke Bol. Die fünf schnellsten Zeiten des Jahres gehen auf ihr Konto und selbst mit gröberen Fehlern (außer dem Bauchfletscher) wird sie nicht zu stoppen sein. Weltrekordlerin Sydney McLaughlin-Levrone fehlt verletzungsbedingt. Die Zweitbeste des Jahres, Britton Wilson, hat es in den Trials der Amerikanerinnen nicht geschafft, aber die Fülle guter Athletinnen ist dort enorm, so dass Shamier Little oder Ex-Weltrekordlerin Dalilah Muhammed mit den Jamaikanerinnen um die Plätze zwei und drei laufen.

Carolina Krafzik zeigte in diesem Jahr tolle Läufe und stellte wiederholt ihre gute Form unter Beweis. Ob Technik, Stehvermögen oder Spritzigkeit, wenn alle Zubringer stimmen wird das Ziel in Budapest im Halbfinale eine neue persönliche Bestleistung sein. Gut in Form ist Eileen Demes, die konstant um 56 Sekunden und schneller läuft. Sie kann sich im Schatten von Krafzik gut verkaufen und vielleicht sogar in den Vorläufen der Abendsession ihre Bestleistung in Angriff nehmen.

4x100-m-Staffel

Die Welt rückt näher zusammen

Wer gewinnt das Nervenspiel? Lange Jahre war es so, dass starke Individualisten gebraucht wurden, die mit mittelmäßigen Wechseln die Medaillen heimbrachten. Die Welt rückt näher zusammen, Lichtgestalten wie Usain Bolt zogen Teammitglieder mit, die Amerikaner wechselten, wie sie wollten, aber Japaner, Chinesen oder auch deutsche Staffeln zeigen, dass sich Technik und Akribie auszahlen können. Bei den Herren der Schöpfung bieten sich einmal mehr die üblichen Staffeln, wie USA, Kanada und Großbritannien an, aber auch mit Jamaika ist wieder zu rechnen. Südafrika bringt vier pfeilschnelle Jungs mit und wenn es bei den anderen Nationen hapert, könnten unsere Jungs zur Stelle sein. Eine erneute Verbesserung des deutschen Rekordes vorausgesetzt, bringen sie sich in aussichtsreiche Position.

DLV-Frauen wollen in den Endlauf

Das verstehen die deutschen Damen wie keine andere Staffel. WM-Bronze, EM-Gold, das liest sich gut. Doch wie in jedem Jahr passiert es, dass im Kollektiv die ein oder andere Verletzung auftritt und Leistungsträgerinnen ersetzt werden müssen. Das will das deutsche Quartett bestmöglich lösen, aber eine Fortsetzung des vergangenen Jahres zu verlangen, wäre vermessen. Der Endlauf muss das Ziel sein.

Die Medaillen machen die Sprintnationen USA und Jamaika unter sich aus. Und der Weltrekord ist nun auch schon wieder über zehn Jahre alt.

4x400-m-Staffel

Die Unter-45-Sekunden-US-Boys von der Bushaltestelle

2017 und 2012. Diese beiden Jahre holten die Amerikaner aus dem Land der Träume zurück. Es gibt auch noch andere schnelle Staffeln. Die Vorherrschaft der Amis ist beängstigend. An jeder Bushaltestelle steht einer, der unter 45 Sekunden laufen kann. Deswegen kamen die Siege von Trinidad & Tobago und den Bahamas etwas überraschend, zeigen aber auch, es ist nicht unmöglich. In diesem Jahr haben sie nicht den Überflieger, der ein Polster verspricht. Der Schnellste ist ein Hürdenläufer, im Kollektiv ist vier Mal eine kleine 44 halt auch verdammt schnell, aber vielleicht fassen sich andere Nationen ein Herz und blasen zur Attacke.

Die deutsche Staffel um Manuel Sanders versucht, einen passablen Vorlauf ins Rund zu pressen und muss schauen, wie schnell die anderen Staffeln sind.

Alles wie gehabt: US-Girls für Gold

Bei den Damen sehen die Kräfteverhältnisse ähnlich aus, stellte sich in der Vergangenheit eigentlich immer nur die Frage, ob die Amerikanierinnen zwei, drei oder vier Sekunden Vorsprung haben. Im Jahr 2015 durchbrach Jamaika die Vorherrschaft, in diesem Jahr wird aber alles wie gehabt bleiben. Die deutsche Staffel war 2017 das letzte Mal im Finale bei einer WM und wird versuchen, sich in Budapest bestmöglich zu verkaufen und alles in diese vier Runden zu legen.

4x400-m-Mixed-Staffel

Die Mixed-Staffel hält immer mal wieder Überraschungen parat. Auf dem Papier ist die Quarter-Miler-Staffel aus den USA immer in der Favoritenrolle, doch Titelverteidiger ist die Dominikanische Republik, die mit den Niederlanden die Großmacht im vergangenen Jahr auf Platz drei verwiesen. Diese Staffel ist prädestiniert für kleinere Nationen, die eben nicht für ebenbürtige Akteure in einem Geschlecht auf die Bahn bringen. Und das macht es auch so spannend.

Können sich die Amis den Titel zurückholen oder gibt es wieder eine Überraschung? Jamaika oder auch Polen melden immer wieder Ambitionen an. Die Niederlande ist mit Bol und Klaver extrem stark besetzt auf den weiblichen Teilabschnitten. Die deutsche Staffel kämpft um den Einzug in den Endlauf, muss aber einen guten Tag erwischen, dass es klappt.

Dieses Thema im Programm: Das Erste | Sportschau | 20.08.2023 | 07:00 Uhr